Angedacht

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Angedacht

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Mein wichtigster Halt in der Welt war der Rockzipfel meiner Mutter, er bedeutete für mich absolute Sicherheit und Schutz.“ Das sagt Seyran Ates in ihrem Buch: Große Reise ins Feuer, Die Geschichte einer deutschen Türkin. (Rowohlt 2003, S. 32)

Unzählige Kinder haben sich im Laufe der Geschichte hinter den großen Röcken ihrer Großmütter und Mütter versteckt. Aus Angst vor anderen Menschen, vor Unwettern, Monstern und vor dem, was kommt. Und wenn das nicht ging, haben sich die Kinder wenigstens an dem Rockzipfel der Röcke ihrer Mütter festgehalten. Die Verbindung muss stehen. Dann fühlt sich das Kind sicher. Der Rockzipfel in der Hand bedeutet alles. Dann ist die Mutter oder Großmutter in der Nähe und ich bin als Kind nicht allein.

„Der hängt ja noch am Rockzipfel seiner Mutter.“ Das ist heute eine Aussage über einen jungen - oder auch nicht mehr so jungen - Menschen, der sich einfach nicht von seiner Mutter lösen kann und nicht auf eigenen Beinen steht. Etwas abschätzig ist das gemeint. Kinder dürfen am Rockzipfel der Mutter hängen, Erwachsene aber nicht mehr. Das ist peinlich, mit 30 noch am Rockzipfel der Mama zu hängen, gar noch in ihrem Haushalt zu wohnen. Irgendwann ist es Zeit, den Rockzipfel der Mutter loszulassen und neue Rockzipfel zu suchen.

Eine Geschichte zum Rockzipfel steht im Neuen Testament. Und sie zeigt, dass Rockzipfel nicht nur an Frauen hängen. Weil eben zu anderen Zeiten und an anderen Orten auch Männer Röcke trugen (und tragen, denkt man an die Schotten).

Zurzeit Jesu haben alle Männer Gewänder getragen, auch Jesus selbst. Eine Frau kommt zu ihm und will von ihm geheilt werden, weil sie seit 12 Jahren krank ist. Und sie sucht den Kontakt zu Jesus und das schafft sie über den Rockzipfel. Sie berührt eine Stelle seines Gewandes und das bedeutet für sie wie für Seyran Ates: Sicherheit und Halt. Mehr noch: Heilung. Jesus spürt in dem Moment, dass Kraft von ihm auf die Frau übergeht. Das ist die Magie des Rockzipfels, der für mehr steht als für eine kurze Berührung. Über die Berührung der Kleidung Jesu hat die Frau Kontakt mit Jesus bekommen. Diese Berührung ist heilsam für sie. Und auch für Jesus, weil er in dem Moment anhand des Rockzipfels lernt, wie viele doch an seinem Rockzipfel hängen und ihn brauchen! Und weil das zu sehr nach Magie des Rockzipfels klingt, heißt es am Ende der Geschichte: „Dein Glaube hat dich gesund gemacht.“ Ja, aber dieser Glaube kennt auch den Rockzipfel und die Kraft der Verbindung zum Göttlichen durch diesen Zipfel vom Gewand. Die Hoffnung braucht nur diesen kleinen Zipfel, denn er steht für mehr.

Nächste Woche geht es weiter mit dem Rockzipfel! Es folgt eine Geschichte aus der hebräischen Bibel, dem alten Testament.

Mit freundlichen Grüßen
Birgit Niehaus, Pfarrerin