Angedacht

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Angedacht

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Warum machen Sie das? wird Nicholas Winton im Film „One Life“ von einem Rabbiner in Prag gefragt. Winton, ein Banker aus London, will im Jahr 1938 jüdische und andere verfolgte Kinder vor dem unmittelbar bevorstehenden Zugriff der Nazis retten. Winton antwortet, es sei nicht seine jüdische Abstammung, die ihn dazu motiviere. Vielleicht, weil er zur Solidarität erzogen worden wäre und selbst Sozialist sei. Doch das ist es auch nicht. Dann sagt er sinngemäß: „Ich habe diese Kinder gesehen, viele ohne Eltern, viele krank und der Winter steht noch bevor und die deutschen Truppen können jederzeit einmarschieren… Ich habe ihre Angst und ihren Schmerz gefühlt. Ich kann nicht anders. Ich muss ihnen helfen.“

Dabei scheint sein Vorhaben absolut unrealistisch: Wie an die Namenslisten der Kinder kommen, wo man ihm doch misstraut und ihn für einen Agenten der Deutschen hält? Wie die britische Ausländerbehörde dazu bringen, Visa in Windeseile und nicht erst nach Jahren zu bewilligen? Wo so viele Gastfamilien finden, die wildfremde Kinder aufnehmen, die meist die Sprache des Feindes sprechen? Woher das Geld nehmen, das die Ausländerbehörde für jede Aufenthaltserlaubnis fordert? Sein Unterfangen scheint aussichtslos. Warum er es dennoch wagt? Es ist seine Fähigkeit, das Leid dieser Kinder zu spüren. Das fremde Leid so zu fühlen, als wäre es sein eigenes.

Jesus erzählt von dieser Gabe im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wie vor ihm der Priester und der Levit sieht auch er den unter die Räuber gefallenen und verletzten Reisenden am Wegesrand liegen. Doch er geht nicht weiter, sondern bleibt stehen und hilft. Warum? In der Bibel heißt es: Der Fremde „jammerte ihn.“ Im Griechischen „splanchnizomai“ von „splanchna“ – Eingeweide. Wörtlich also: Der Fremde „eingeweidete“ ihn. Der Samariter hat die Gabe, die Schmerzen des anderen sogar körperlich zu spüren.

Ich bin nicht wie dieser Samariter. Ich habe wie so viele „normale“ Menschen auch die Fähigkeit, mich vor zu großem Leid um mich herum zu schützten. Es also nicht an mich heranzulassen oder nur so, dass ich daran nicht verrückt werde. Ich wäre an Wintons Stelle wohl Realist geblieben und hätte die Aussichtslosigkeit des Rettungsunterfangens eingesehen.

Ich glaube aber, dass es genau diese Gabe eines Wintons braucht, um diese Welt zum Guten zu verändern und die Menschheit zu retten. Diese Distanzlosigkeit gegenüber dem Leid der Anderen. Vielleicht war es diese Distanzlosigkeit, die Greta Thunberg noch als Schülerin allein auf die Straße trieb, um gegen die Klimakatastrophe und für die Zukunft der kommenden Generationen nachhaltig aufzutreten. In Jesus Christus sehe ich diese Kraft in Vollendung. Er macht sich das Leid von uns Menschen so zu eigen, dass er es auf sich nimmt, den Mord erleidet, um den Mördern zu vergeben. Ostern heißt dann: Gott lässt diese Fähigkeit zum distanzlosen Mitfühlen auferstehen. Diese Kraft lebt und sie rettet, in Dir, in mir, in uns allen!

Winton und seine Mitstreiterinnen retteten damals in kürzester Zeit 669 Kinder vor dem sicheren Tod. Ein jüdisches Sprichwort ruft uns Leid-Distanzierten hoffnungsvoll zu: „Wer das Leben eines Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“

Herzlich grüßt Sie
Ihr Pfarrer Matthias Leibach